Ferhat Mehenni ist ein algerischer Musiker und Politiker. Er ist Sprecher der Bewegung für die Selbstverwaltung der Kabylei, der führenden Gruppe für die Unabhängigkeit der Kabylei in Algerien, sowie Präsident der „Übergangsregierung der Kabylei“. In diesem exklusiven Interview reagiert Mehenni auf die Terrorismusvorwürfe gegen ihn, spricht über die Möglichkeit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung, das marokkanische Unterstützungsengagement für seine Sache und seine Unterstützung für die Normalisierung der Beziehungen zu Israel. Er äußert sich zudem zu den angeblichen „Verschwörungen“ Algeriens gegen Frankreich und betont, dass die Kabylei „kein destabilisierender Faktor, sondern ein Hebel für den Frieden im Mittelmeer“ sei.
warum fordern Sie die Eigenständigkeit der Kabylei, Herr Mehenni?
Bereits 2017 haben wir der UNO ein Memorandum vorgelegt, das das Selbstbestimmungsrecht des kabylischen Volkes einfordert. Darin haben wir die Gründe dargelegt, die unsere Forderung untermauern. Es heißt dort u.a.: „Der Wunsch der Kabylei nach Unabhängigkeit entspringt nicht einem flüchtigen Impuls oder einem romantischen Freiheitsideal. Er ist ein tief verankertes, überdauerndes Wesensmerkmal unserer kollektiven Identität und kulturellen Prägung seit jeher.“
Neben den geschichtlichen Aspekten – insbesondere der jahrhundertelangen politischen Autonomie der Region – spielt auch eine Rolle, dass das heutige Algerien 1839 durch Frankreich geschaffen wurde, während die Kabylei erst 32 Jahre später gewaltsam eingegliedert wurde. Auch aus juristischer und politischer Sicht gibt es Argumente, die belegen, dass die Zugehörigkeit der Kabylei zu Algerien nur noch durch Unterdrückung aufrechterhalten werden kann. Die systematische Verweigerung ihrer Existenz sowie die Beraubung ihrer elementaren Rechte haben dazu geführt, dass sich die Kabylei weder unter der französischen Kolonialherrschaft noch seit 1962 als legitimer Teil Algeriens empfunden hat. Alle Versuche, ihre Identität durch staatliche Assimilationsstrategien zu tilgen, sind gescheitert.
Die immer wiederkehrenden Erhebungen gegen das postkoloniale Algerien belegen den konstanten Wunsch nach Selbstständigkeit: 1963–1965: bewaffneter Widerstand unter Führung von Hocine Ait Ahmed (FFS), 1980–1985: 36 Militäreinsätze gegen Proteste, 1993: Selbstverteidigung gegen islamistische Gruppen, 1994–1995: Schulstreiks für kulturelle und politische Anerkennung, 1998: landesweite Empörung über den Mord an Matoub Lounès, 2001: friedlicher Aufstand mit über 150 Todesopfern, tausenden Verletzten, 2021: gezielte Brandanschläge durch Militär und Luftstreitkräfte mit über 500 Toten
Bis heute verweigert Algerien die Anerkennung regionaler Verwaltungsstrukturen – um die Kabylei nicht benennen zu müssen. Unsere Sprache wird unterdrückt, unsere Kinder erfahren eine Politik der Identitätsauslöschung – ein kultureller Völkermord, der als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen ist.
Die zahlreichen politischen Gefangenen aus der Kabylei sind ein eindrucksvoller Beweis für unseren unerschütterlichen Wunsch nach Unabhängigkeit – ein Wille, der sich nicht durch Repression brechen lässt. Die Kabylei steht für Säkularismus und Demokratie, während Algerien durch ein islamistisch-militärisches Regime dominiert wird. Wir verkörpern das genaue Gegenteil Algeriens – und in diesem ungleichen Verhältnis herrscht ein täglicher Überlebenskampf. Unser Ziel ist nicht die Zerstörung Algeriens, sondern das Recht auf eigenständige Existenz als Nachbar – nicht als Kolonie. Seit 2001 boykottieren wir alle entscheidenden Wahlen – wir fühlen uns nicht mehr zugehörig.
Ein algerisches Gericht hat Sie in Abwesenheit zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Wie nehmen Sie das auf?
Seit Oktober 2021 wurden zahlreiche Urteile gegen mich gefällt – darunter Todesurteile, lebenslange Haftstrafen sowie 20 Jahre Gefängnis. Diese Verfahren ähneln politisch motivierten Hexenjagden gegen kabylische Aktivist:innen jeglicher Richtung – wobei stets der MAK beschuldigt wird. Ich fordere die algerische Regierung auf, den geringsten Beweis für eine Beteiligung meinerseits an gewalttätigen oder terroristischen Handlungen vorzulegen. Unsere Bewegung ist friedlich und gewaltfrei – weltweit einzigartig. Wir kämpfen lediglich für unser legitimes Selbstbestimmungsrecht.
Das algerische Regime instrumentalisiert das Selbstbestimmungsrecht anderer Völker, um geopolitische Gegner wie Marokko oder Staaten im Nahen Osten zu destabilisieren – verweigert dieses Grundrecht aber den eigenen Bürgern in der Kabylei unter dem Vorwand der „nationalen Einheit“. Die Urteile gegen mich und unsere Anhänger sind rein politischer Natur. Sie können ebenso leicht aufgehoben werden, wie sie erlassen wurden – sobald der politische Kontext sich verändert. Einige Aktivisten, die sich öffentlich vom MAK distanzierten, um ihre konfiszierten Besitztümer zurückzuerhalten, wurden unmittelbar nach ihrer Kooperation mit den algerischen Behörden freigesprochen.
Sie haben den algerischen UN-Botschafter schriftlich dazu aufgefordert, das Selbstbestimmungsrecht der Kabylei im Sicherheitsrat zu thematisieren. Was wollten Sie damit bewirken?
Der algerische Vertreter bei den Vereinten Nationen hatte im Januar den Vorsitz im Sicherheitsrat inne und angekündigt, Debatten über die Selbstbestimmungsrechte der Palästinenser sowie der Sahraouis zu führen. Da Algerien gerne die Probleme anderer thematisiert, wollte ich es an seine eigenen erinnern. Ich hatte keine Illusionen, was das Ergebnis betrifft – aber es war wichtig, diesen symbolischen Schritt zu unternehmen, um ihn dauerhaft im kollektiven Gedächtnis unseres Volkes zu verankern.
Ein britisches Gericht hat das kabylische Volk als völkerrechtlich eigenständig anerkannt. Welche Bedeutung hat diese Entscheidung für Ihre Sache?
Wir sind nicht das erste Volk, das sich an die britische Justiz wendet – ein Justizsystem, das für seine Seriosität und Unabhängigkeit bekannt ist – um die Legitimität seines Selbstbestimmungsanspruchs zu untermauern. Da Algerien unsere Existenz leugnet, baten wir ein neutrales Gericht, zwischen uns und unseren Verleugnern zu vermitteln. Diese Anerkennung hat enormes Gewicht. Sie entkräftet den Vorwurf der „Separatismus“-Rhetorik Algeriens. Zwar haben wir uns davon nie beirren lassen, doch durch die offizielle Anerkennung als eigenständige Nation erhalten wir nun auch das völkerrechtliche Fundament, um – unter bestimmten Bedingungen – einseitig unsere Unabhängigkeit zu erklären. Dies könnte bereits 2025 Realität werden.
Algerien unterstellt Ihnen regelmäßig, Unterstützung aus Marokko zu erhalten. Was entgegnen Sie?
Als freiheitsliebendes Volk sind wir auf internationale Unterstützung angewiesen. Marokko setzt sich seit 2013 offen bei der UNO und den Blockfreien für unser Selbstbestimmungsrecht ein – dafür sind wir dankbar. Diese Hilfe ist jedoch rein politischer Natur und steht in keinem Verhältnis zu der militärischen und finanziellen Unterstützung, die Algerien Gruppen wie der Polisario, der Hamas oder der Hisbollah zukommen lässt. Natürlich wünschen wir uns auch finanzielle Hilfe von Staaten, deren Interessen mit einer souveränen Kabylei vereinbar sind – bisher ist das jedoch nicht eingetreten. Aber wir bleiben hoffnungsvoll.
Sie sprechen sich seit Jahren für die Normalisierung der Beziehungen zwischen muslimischen Ländern und Israel aus. Warum?
Wäre die Kabylei heute ein unabhängiger Staat, hätte sie Israel bereits anerkannt – mitsamt seinem Existenzrecht und seinem Recht auf Selbstverteidigung gegen jene, die es aus rassistischen oder religiösen Motiven seit Jahrzehnten vernichten wollen. Eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel ist Ausdruck von Vernunft, Weitsicht und Zivilisation. Die Welt muss sich von ihren eingefahrenen Feindbildern lösen. Die Kabylei respektiert alle Glaubensrichtungen – und damit auch das Sicherheitsbedürfnis jedes Volkes.
Der Rückzug muslimischer Staaten aus dem Kriegszustand mit Israel ist ein mutiger, konstruktiver Schritt. Diplomatie muss Konflikte lösen – Krieg darf niemals die erste Option sein. Doch gegen Israel wurde Krieg geführt, bevor man überhaupt den Dialog gesucht hat. Ein unabhängiger Staat Kabylei im Mittelmeerraum wäre ein Faktor für Stabilität, Frieden und Kooperation – im Gegensatz zur destruktiven Regionalpolitik Algeriens.
Sie werfen den algerischen Geheimdiensten vor, Frankreich destabilisieren zu wollen. Was ist die Grundlage dieser Aussage?
Das ist nicht meine Behauptung – sondern stammt von Präsident Tebboune selbst. In mehreren Reden hat er Frankreich offen gedroht, die algerische Diaspora gegen es zu mobilisieren. Dabei versprach er jungen Menschen Schutz und Straffreiheit. Der mediale Ansturm algerischer „Influencer“ in den sozialen Netzwerken ist die praktische Umsetzung dieser Drohung. Was er jedoch nicht begreift: Die sogenannte „algerische“ Diaspora in Frankreich besteht zu einem Großteil aus Kabylen – und diese folgen seinen Aufrufen nicht. Unsere Gemeinschaft in Frankreich zählt rund zwei Millionen Menschen – sie strebt nach Freiheit für ihre eigentliche Heimat Kabylei, nicht nach Rache an Frankreich, das seit Jahrzehnten keine Kolonialmacht mehr ist.
Angesichts der komplexen geopolitischen Lage – wie sehen Sie die Zukunft der Kabylei? Verhandlungsweg, internationaler Druck oder einseitige Unabhängigkeitserklärung?
Für uns ist klar: Die Zukunft der Kabylei liegt in der vollständigen staatlichen Eigenständigkeit. Die Frage ist lediglich: Auf welchem Weg erreichen wir dieses Ziel? Für den MAK und die Exilregierung Anavad ist ein bewaffneter Kampf keine Option. Der Dialog steht für uns an erster Stelle. Internationaler Druck kann dabei helfen, diesen friedlichen Weg zu flankieren. In einer idealen Welt hätten längst Verhandlungen begonnen, begleitet von unabhängigen Vermittlern, um Vertrauen aufzubauen und Vereinbarungen umzusetzen.
Wenn Algerien weiterhin eine demokratische Lösung verweigert, bleibt uns letztlich nur der Weg einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung – ganz im Sinne des amerikanischen Beispiels von 1776 gegenüber der britischen Krone.
Nichts ist ewig – aber wir hoffen, dass wir nicht die letzten Friedensstifter unseres Volkes sind.
Interviewt von Abderrahmane Ammar